Sommerloch-Thema Gendern
Wenn sich ein 97jähriger Sprachpapst zum Gendern äußert, dann wissen Sie, es ist Saure-Gurken-Zeit und im Sommerloch der Zeitungen ausreichend Platz, um ausdiskutierte Positionen neu hoch zu kochen. Die Vorlage lieferte der Aufruf "Linguistik vs. Gendern" von 70 größtenteils emeritierten "Sprachwissenschaftlern und Philologen"; bei den Erstunterzeichnern sind auch Experten für Hindi oder auch aserbeidschanische Dichtung. Weitere Unterschriften werden eifrig eingesammelt bei allen, die meinen, sie müssten gegen die "Genderpraxis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" angehen. Die Bildzeitung sprang darauf an und bot besagtem Wolf Schneider, der als „oberster Sprachlehrer“ einst hunderten junger Menschen guten Stil für Journalismus beigebracht hatte, eine Bühne für seine Empörung über schauerliche Genderbeispiele. Wer es mit geschlechtersensibler Sprache ernst meint, macht die mal wieder herbeizitierten Fehler nicht, das ist doch klar!
Tatsächlich werden in der Linguistik ganz unterschiedliche Positionen zum Gendern diskutiert. Dominik Hetjens und Marlene Rummel von der TU Dresden liefern eine gelungene Übersicht mit „Tendenzen in sechs Stereotypen“. Erhellend ist auch das Interview mit der Linguistin Prof. Dr. Damaris Nübling, Uni Mainz, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Sie hält der alten Mär von Genus und angeblich neutralem Sexus beim generischen Maskulinum den Aspekt von Gender entgegen, der in vielen Personenbeschreibungen mitschwinge. Beim Wort „Pfleger“ würden meist Männer assoziiert, obwohl bekanntermaßen in der Pflege überwiegend Frauen tätig sind. Sie verweist auch auf die jüngere linguistische Forschung: Mittlerweile liegen mehr als 40 psycholinguistische Studien zur Wirkungsweise des generischen Maskulinums vor. Diese Tatsache ignoriert der besagte Aufruf.
Wollen Sie noch tiefer einsteigen? Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, gleichfalls ein emeritierter Professor, hat mit Hilfe des studentischen Mitarbeiters Matthias Schanzenbächer die Studie „Gendern als verfassungsrechtliche Verpflichtung?“ verfasst. Sehr gut lesbar, aber eben auch sehr juristisch argumentierend, geht es in die Tiefen des Grundgesetzes. Die beiden kommen so zu der Ansicht, dass das generische Maskulinum in Gesetzestexten gute Dienste leiste, da sich schließlich alle darauf einigen könnten, dass mit diesen abstrakten Personen- oder Gruppenbezeichnungen im maskulinen Genus alle gemeint sein sollen, Männer, Frauen, trans-, intergeschlechtliche, nichtbinäre Personen. Diese Wortwahl sei auch praktikabler und weniger fehleranfällig, als wenn die Geschlechtervielfalt jedes Mal ausformuliert werden müsse. Sobald aber einzelne Personen adressiert werden, etwa in amtlichen Bescheiden, müsse präzisiert werden: Als Konsequenz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei die korrekte, geschlechtsspezifische Ansprache zu wählen. Das juristische Fazit: eine staatliche Normierung der Sprache würde in die Sprach- und Schreibfreiheit eingreifen. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zulässig. Bingo.
Wie jetzt weitermachen? Ich habe bei Genderleicht.de eine neue Anleitung veröffentlicht, eine Zusammenfassung meiner zahlreichen Schulungen: Journalistisches Gendern, oder „wie Sie Texten den männlichen Anschein nehmen und erst dann Sternchen setzen, wenn es wirklich darauf ankommt“. Auch wenn Sie nicht journalistisch arbeiten, finden Sie darin praktikable Ideen.
Und: Mehr Toleranz in der Genderdiskussion fordert das Leibniz Institut für Deutsche Sprache Mannheim als Reaktion auf den obigen Aufruf. Prof. Dr. Henning Lobin erklärte gegenüber dem MDR, dass Toleranz bedeute, weder eine bestimmte Form des Genderns verpflichtend zu machen, noch den Wunsch nach mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache als ideologisch abzutun.
Mit ausgesprochen toleranten Grüßen
Christine Olderdissen
Projektleitung Genderleicht
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SCHREIB-TIPP
PARTIZIPIEN
Das Partizip Präsens beschreibt Eigenschaften oder Verhaltensweisen ( Kranke, Anwesende) oder die Rolle in einem Geschehen. Dies lässt sich auch als Status beschreiben, wie beim Wort Studierende und vergleichbar mit Vorstandsvorsitzende oder Auszubildende.
Vermeiden Sie absurde Kombinationen:
„verhaftete Demonstrierende“
„verstorbene Drogengebrauchende“.
Bei Genderleicht.de finden Sie → mehr Schreibtipps
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VORSTÄNDIN, RADFAHRENDE & REDEPULT
GENDERWORTE DES MONATS
SONNENBADENDE
SCHWITZENDE
SCHATTENSUCHENDE
Nutzen Sie auch schöne Partizipien zum Gendern? Haben Sie ein neues gefunden?
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GENDERLEICHT CLASSICS:
LESCHS KOSMOS: SENDUNG ÜBERS GENDERN
Wissenschaftliche Studien haben Prof. Harald Lesch von geschlechtergerechter Sprache überzeugt. Wir verraten, über welche Studien er im ZDF berichtet hat. Eine Sendung, die übrigens im obigen Aufruf der 70 Linguisten als einseitig kritisiert wird. Machen Sie sich doch selbst ein Bild.
→ Leschs Kosmus über "Gendern - Wahn oder Wissenschaft"
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